Alexander Lorber
Um Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften beim Stau auf der Autobahn einen Weg zum Unfallort freizuhalten, ist die Bildung einer Rettungsgasse überlebenswichtig. Es ist heute kaum vorstellbar, dass es dazu in den frühen Jahren der Bundesrepublik noch keine einheitliche Regelung in der Straßenverkehrsordnung gab. Bis Karl-Heinz Kalow einen Gesetzesvorschlag schrieb und an die damalige NRW-Landesregierung schickte. Er war damals Polizei-Hauptwachtmeister bei der Autobahnpolizei in Münster. Seit 1970 ist sein Gesetzesvorschlag rechtsgültig. Die „Streife-Redaktion" hat den inzwischen 81-jährigen Erfinder der Rettungsgasse zu Hause in Münster besucht.
DIe Erinnerungen an seinen Polizeidienst bewahrt Karl-Heinz Kalow im Wohnzimmerschrank auf. Darunter seine alten Schulterabzeichen und ein kleines Polizeiauto in Modellgröße. Er holt ein unscheinbares Album mit ledernem Umschlag aus dem Regal, in dem er sorgfältig alle Fotos gesammelt hat, die während seiner Dienstzeit bei der Verkehrspolizei entstanden sind. „Damals nannten sie uns die »Weißen Mäuse«, wenn wir mit weißen Streifenwagen über die Autobahn fuhren", erzählt Kalow. Es sind aber auch Bilder von schweren Autounfällen in dem Buch zu sehen, darunter Auffahrunfälle, brennende Pkws und demolierte Lastwagen.
Als erster Schritt für mehr Verkehrssicherheit wurden damals flächendeckende Mittelschutzplanken eingeführt, sodass die Fahrer bei Übermüdung zumindest nicht auf die Gegenfahrbahn geraten konnten. „Sicher war das Verkehrsaufkommen zu dieser Zeit noch nicht so stark wie heute, aber bei einem Unfall war die Autobahn auch zu meiner Zeit sehr schnell dicht", erinnert sich Kalow. Er habe einen Fall erlebt, da konnte ein Lastzug am Stauende nicht mehr rechtzeitig bremsen und versuchte, zwischen den beiden Fahrstreifen auszuweichen. Die Lücke war jedoch zu eng. Dadurch kam es zu einem schweren Verkehrsunfall, 14 Fahrzeuge wurden schwer beschädigt. Dieser Unfall brachte den damals 26-jährigen Verkehrspolizisten auf eine Idee. Es fehlte eine Lösung, wie die Rettungskräfte bei einem Stau schnellstmöglich zum Unfallort gelangen könnten. Das müsste doch einmal gesetzlich geregelt werden, dachte sich Kalow.
Eine Idee wird zum Gesetz
Gesagt, getan. Er nahm Stift und Papier in die Hand und begann mit einigen Skizzen. Wie müsste der Verkehr geregelt werden, um Polizei und Rettungskräften genügend Platz für die Durchfahrt zu gewähren? Es gab zwar den Paragraphen 48 in der Straßenverkehrsordnung (StVO). Der schrieb den Autofahrern vor, die Fahrbahn für Einsatzfahrzeuge zu räumen. Allerdings war nirgends klar formuliert, wie sich die Fahrer dabei genau zu verhalten hatten. Deshalb dachte sich der junge Polizeihauptwachtmeister eine einfache Regel aus: Die Fahrzeuge auf dem rechten Fahrstreifen müssten scharf rechts auf den Randstreifen fahren, während die Fahrer auf dem Überholstreifen scharf links heranfahren müssten, damit die Mitte für Krankenwagen, Feuerwehr und Polizei frei bliebe. An drei- oder vierstreifige Autobahnen dachte Kalow damals noch nicht. „Bei Einsätzen fanden wir es immer wieder ärgerlich, dass die Verkehrsteilnehmer auf unser Erscheinen gar nicht eingestellt waren", sagt Kalow. Bei einem Stau mit einer Länge von 20 Kilometern kann ein hoher Zeitverlust für die Einsatzfahrzeuge fatale Folgen für die Verletzten haben. Schließlich zählt im Notfall jede Sekunde. Zudem gilt das Stauende als großer Gefahrenpunkt für weitere Unfälle. Wenn die Fahrer sich einem Stau nähern und zu spät abbremsen, können weitere schwere Unfälle passieren. Würden die Verkehrsteilnehmer eine Rettungsgasse bilden, könnte ein Fahrzeug im Notfall die Fahrbahnmitte zum sicheren Bremsen benutzen. Kalows Vorschlag brachte somit gleich mehrere Vorteile: Er beugt schweren Unfällen am Stauende vor und ermöglicht der Polizei eine schnelle Verkehrsregelung.
Karl-Heinz Kalow schrieb eine ausführliche Begründung seines Gesetzesvorschlags und schickte das Schreiben am 29. März 1963 an den Innenministeriellen Ausschuss für das behördliche Vorschlagswesen. Doch zunächst hörte er lange nichts.
Grünes Licht für die Rettungsgasse
Es vergingen einige Jahre, in denen Kalows Vorschlag geprüft wurde. Schließlich erhielt er im Jahr 1966 einen Brief aus dem NRW-Innenministerium. Darin stand, dass der damalige nordrhein-westfälische Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr, Prof. Dr. Bruno Gleitze, Kalows Vorschlag in den Entwurf einer neuen StVO aufgenommen habe. Eine abschließende Beratung stehe aber noch aus. Am 14. März 1967 schließlich kam dann der endgültige Beschluss – vier Jahre nach der Einreichung seines Vorschlags. Es dauerte dann noch weitere drei Jahre, bis die neue StVO 1970 in Kraft trat. Als finanzielle Anerkennung für seinen Vorschlag erhielt Kalow vom Land NRW 100 Deutsche Mark.
„Diese kleine Aufmerksamkeit hat mich natürlich gefreut, aber im Vordergrund stand für mich ganz klar, dass mit der neuen Regelung in der StVO viele Menschenleben gerettet werden", sagt Kalow. Die Rettungsgasse ist mittlerweile nicht nur bundesweit, sondern auch in anderen EU-Ländern wie in Österreich, Slowenien, Ungarn und Tschechien sowie in der Schweiz vorgeschrieben. Leider halten sich bis heute nicht alle Verkehrsteilnehmer an die gesetzliche Regel. Im Juli 2017 kamen auf der Autobahn 9 in Nordbayern in einem brennenden Bus 18 Menschen ums Leben. Der Fahrer des Reisebusses war an einem Stauende aus Unachtsamkeit auf den Anhänger eines Lastwagens aufgefahren. 30 weitere Reisende wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Die viel zu schmal gehaltene Rettungsgasse erschwerte vor allem großen Einsatzfahrzeugen das Fortkommen zur Unfallstelle.
Höhere Bußgelder
Mittlerweile hat die Politik auf das massive Fehlverhalten vieler Autofahrer reagiert. Wer bei stockendem Verkehr auf der Autobahn keine Rettungsgasse für Polizei und Helfer bildet, muss mit einem Bußgeld von mindestens 200 Euro rechnen. Im schwersten Fall drohen ein Bußgeld von bis zu 320 Euro und ein Monat Fahrverbot. Karl-Heinz Kalow begrüßt die härteren Strafen: „Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wie respektlos sich einige Autofahrer gegenüber den Helfern und der Polizei verhalten. Gaffer behindern die Einsatzkräfte bei ihrer Arbeit und verursachen in einigen Fällen sogar weitere Unfälle." Als Kalow selbst noch aktiv im Polizeidienst war, hat er ein solches Maß an Uneinsichtigkeit selten erlebt. „Ich habe viele Unfälle gesehen und weiß, wie schlimm es für die Opfer sein kann. Solche Erlebnisse behält man im Kopf. Da ist schnelle Hilfe dringend notwendig."
Ein kleines bisschen Stolz
Heute ist Karl-Heinz Kalow, der mehr als 40 Jahre im öffentlichen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen und davon 37 Jahre bei der Autobahnpolizei beim Regierungspräsidenten in Münster tätig gewesen ist, zurecht stolz auf seinen Beitrag. Die Rettungsgasse war seine Idee und hat unzähligen Unfallopfern das Leben gerettet. Um seinen Verdienst hat der 81-Jährige nie ein großes Aufheben gemacht. Wenn er anderen Menschen von seiner Erfindung erzählt, freut er sich über die erstaunten Gesichter. „Ich hatte vor ein paar Jahren selbst einen kleinen Unfall. Ich erzählte der Polizistin bei der Unfallaufnahme, wie ich auf die Idee mit der Rettungsgasse gekommen bin und dass mein Vorschlag schließlich seinen Weg in die StVO fand. Sie war sehr überrascht und konnte sich kaum vorstellen, dass es früher noch keine gesetzliche Regelung dafür gab.".